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Zuhause👶 2-10 Jahre📖 15 Min. Lesezeit

Kind hört nicht zu – Warum Kinder 'taub' scheinen und was wirklich hilft

'Zieh deine Schuhe an.' Keine Reaktion. 'Räum bitte dein Zimmer auf.' Stille. 'Komm zum Essen!' Nichts. Als würde dein Kind durch dich hindurchsehen. Diese Situation kennen praktisch alle Eltern – und sie kann wahnsinnig frustrierend sein. Aber es gibt Gründe dafür, und es gibt Lösungen.

In diesem Artikel erfährst du:

  • 1Warum Kinder oft wirklich nicht hören (nicht nur nicht wollen)
  • 2Was im Gehirn passiert, wenn wir Anweisungen geben
  • 3Die häufigsten Kommunikationsfehler von Eltern
  • 4Wie die 4 Erziehungsstile mit 'Nicht-Hören' umgehen
  • 5Konkrete Strategien, die nachweislich funktionieren
  • 6Wann 'Nicht-Hören' auf ein größeres Problem hinweisen kann

Warum hört mein Kind nicht?

Zuerst die gute Nachricht: In den meisten Fällen ist 'Nicht-Hören' kein Zeichen von Respektlosigkeit oder schlechter Erziehung. Es hat oft sehr konkrete Ursachen.

Die wichtigsten Gründe:

1. Das Kind hört wirklich nicht: Wenn ein Kind tief ins Spiel versunken ist, erreichen äußere Reize das Bewusstsein oft nicht. Das nennt sich 'selektive Aufmerksamkeit' und ist bei Kindern besonders stark ausgeprägt.

2. Das Kind versteht nicht: Zu viele Anweisungen auf einmal, zu komplexe Sprache oder unklare Erwartungen überfordern Kinder.

3. Das Kind kann nicht: Die Impulskontrolle ist bei Kindern noch nicht ausgereift. Selbst wenn sie hören und verstehen, fehlt manchmal die Fähigkeit, sofort zu reagieren.

4. Das Kind will nicht: Ja, manchmal ist es auch Widerstand – aber selbst das hat oft einen Grund (Autonomiebedürfnis, Überforderung, Machtkampf).

Zwei verschiedene Welten

Um zu verstehen, warum diese Situation so frustrierend ist:

Dein Kind erlebt:

  • Ich bin gerade mitten in etwas Wichtigem (Spiel = Arbeit für Kinder)
  • Irgendwo höre ich Mamas/Papas Stimme, aber...
  • Das, was ich gerade mache, ist viel interessanter
  • Jetzt SOFORT aufhören? Das ist so schwer!
  • Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll (bei komplexen Aufgaben)

Du als Elternteil erlebst:

  • Ich habe es jetzt schon dreimal gesagt!
  • Bin ich unsichtbar? Existiere ich nicht?
  • Das ist so respektlos!
  • Andere Kinder machen das doch auch einfach
  • Was mache ich falsch?

💡'Nicht hören' ist selten böse Absicht. In den meisten Fällen ist es ein Zeichen dafür, dass unsere Kommunikation nicht kindgerecht ist – oder dass das kindliche Gehirn schlicht anders funktioniert als unseres.

Was im Gehirn passiert: Die Wissenschaft dahinter

Um zu verstehen, warum Kinder oft nicht reagieren, hilft ein Blick ins Gehirn.

Selektive Aufmerksamkeit:
Kinder können ihre Aufmerksamkeit oft nur auf EINE Sache richten. Wenn sie spielen, ist das Spiel ihr gesamter Fokus. Externe Stimuli (deine Stimme) werden buchstäblich 'ausgefiltert'. Das ist keine Absicht – das Gehirn macht das automatisch.

Der präfrontale Kortex:
Dieser Bereich ist für Aufgaben wie 'eine Aktivität unterbrechen', 'Prioritäten setzen' und 'einen Plan umsetzen' zuständig. Er ist bei Kindern noch nicht ausgereift. Deshalb fällt es ihnen so schwer, mitten im Spiel aufzuhören und etwas anderes zu tun.

Arbeitsgedächtnis:
Kinder können nur begrenzt viele Informationen gleichzeitig verarbeiten. 'Geh ins Bad, putz dir die Zähne, zieh den Schlafanzug an und such dir ein Buch aus' – das sind VIER Anweisungen. Erwachsene bewältigen das leicht, Kinder nicht.

Die Verarbeitungszeit:
Kindliche Gehirne brauchen länger, um Informationen zu verarbeiten. Wenn du eine Anweisung gibst und nach 3 Sekunden wiederholst, hatte dein Kind noch keine Chance zu reagieren.

⏱️

Die 10-Sekunden-Regel

Nach einer Anweisung brauchen Kinder etwa 10 Sekunden Verarbeitungszeit – manche sogar länger. In dieser Zeit verarbeitet das Gehirn: Was wurde gesagt? Was bedeutet das? Was muss ich tun? Wie fange ich an? Wenn du vor Ablauf dieser Zeit wiederholst oder drängst, startet der Prozess von vorne.

Typische Kommunikationsfehler

Diese gut gemeinten Gewohnheiten reduzieren die Chance, dass dein Kind hört:

  • Aus der Ferne rufen: Vom Wohnzimmer in die Küche – da kommt wenig an
  • Zu viele Worte: Je länger die Anweisung, desto weniger bleibt hängen
  • Fragen statt Aussagen: 'Könntest du bitte...' gibt Raum für 'Nein'
  • Ständiges Wiederholen: Kind lernt: Erst nach dem 5. Mal wird's ernst
  • Keine Augenhöhe: Im Vorbeigehen etwas sagen funktioniert selten
  • Unklare Zeitangaben: 'Gleich' und 'bald' bedeuten für Kinder nichts
  • Mehrere Anweisungen auf einmal: Überlastet das Arbeitsgedächtnis
  • Im falschen Moment: Mitten in einer Aktivität ist der schlechteste Zeitpunkt

💡Die meisten dieser Fehler passieren uns allen täglich. Das Gute: Sie lassen sich relativ leicht ändern.

Wie die 4 Erziehungsstile mit 'Nicht-Hören' umgehen

Der Erziehungsstil beeinflusst stark, wie wir reagieren, wenn das Kind nicht hört:

Empfohlen
🌿

Autoritativ

Wärme + klare Grenzen

  • Stellt sicher, dass das Kind aufnahmebereit ist (Augenkontakt, Nähe)
  • Gibt klare, kurze, altersgerechte Anweisungen
  • Gewährt angemessene Reaktionszeit
  • Erklärt bei wichtigen Dingen das Warum
  • Bleibt freundlich, aber bestimmt bei wiederholtem Nicht-Hören
  • Sucht nach der Ursache statt nur zu bestrafen
  • Bietet Unterstützung bei der Umsetzung an

→ Kinder lernen zuzuhören, weil die Kommunikation klar ist und sie sich respektiert fühlen.

🏛️

Autoritär

Strenge + wenig Emotionen

  • Erwartet sofortige Reaktion ohne Erklärung
  • Wird schnell lauter, wenn keine Reaktion kommt
  • Droht mit Konsequenzen
  • Sieht Nicht-Hören als Respektlosigkeit
  • Fokussiert auf Gehorsam statt Verständnis

→ Kurzfristig manchmal Erfolg, aber Kind handelt aus Angst, nicht aus Überzeugung. Beziehung leidet.

☀️

Permissiv

Viel Wärme, wenige Grenzen

  • Wiederholt Anweisungen endlos ohne Konsequenz
  • Macht die Aufgabe oft selbst, um Konflikte zu vermeiden
  • Formuliert alles als Frage oder Bitte
  • Hat Schwierigkeiten, auf der Anweisung zu bestehen
  • Kind lernt: Ich muss nicht reagieren

→ Kind wird selten Konfrontiert und lernt nicht, auf Anweisungen zu reagieren. Kann später problematisch werden.

🍃

Laissez-faire

Wenig Struktur, wenig Führung

  • Gibt wenige Anweisungen oder verfolgt sie nicht nach
  • Ist inkonsequent – mal wichtig, mal egal
  • Kind weiß nicht, was erwartet wird
  • Kommunikation ist oft nebenbei
  • Wenig aktive Führung

→ Kind hat keine klare Orientierung und reagiert entsprechend unzuverlässig.

So wirst du gehört – Schritt für Schritt

Diese Strategien sind wissenschaftlich fundiert und praxiserprobt:

1

Nähe herstellen

Geh zu deinem Kind hin. Nicht rufen, nicht vom Nebenzimmer. Körperliche Nähe ist der erste Schritt zur Aufmerksamkeit.

💡 Wenn du zu deinem Kind gehst, signalisierst du auch: Das hier ist wichtig.

2

Auf Augenhöhe gehen

Hock dich hin, sodass ihr auf Augenhöhe seid. Das ist respektvoller UND erhöht die Aufmerksamkeit dramatisch.

💡 Sanfte Berührung an Schulter oder Arm kann zusätzlich helfen.

3

Aufmerksamkeit sichern

Warte, bis dein Kind dich ansieht. 'Schau mich bitte an' oder 'Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.' Erst dann die Anweisung.

💡 Namentlich ansprechen erhöht die Aufmerksamkeit: 'Lisa, ich brauche...'.

4

Kurz und klar formulieren

Eine Anweisung, kurze Sätze, klare Worte. 'Schuhe anziehen' statt 'Könntest du vielleicht langsam mal deine Schuhe anziehen, wir müssen nämlich bald los'.

💡 Die 5-Wort-Regel: Versuche, unter 5 Wörtern zu bleiben.

5

Positiv formulieren

'Lauf bitte' statt 'Nicht rennen'. 'Leise sprechen' statt 'Nicht schreien'. Das Gehirn verarbeitet positive Anweisungen besser.

💡 Vermeide 'nicht' und 'kein' – das Kind hört oft nur den Rest.

6

Verarbeitungszeit geben

Nach der Anweisung: 10 Sekunden warten. Still. Nicht wiederholen, nicht drängeln. Das Gehirn braucht diese Zeit.

💡 Zähle innerlich bis 10, bevor du irgendetwas tust.

7

Rückbestätigung einholen

'Was sollst du jetzt machen?' – Wenn das Kind es wiederholen kann, hat es verstanden. Wenn nicht, war die Anweisung vielleicht zu komplex.

💡 Nicht als Test formulieren, sondern als: 'Sag mir nochmal, was der Plan ist.'

8

Bei Nicht-Reaktion: Handeln, nicht reden

Wenn nach 10 Sekunden keine Reaktion kommt: Nicht wiederholen, nicht lauter werden. Stattdessen: Hingehen und beim Start helfen. 'Ich helfe dir anzufangen.'

💡 Manchmal braucht das Kind nur einen 'Anschubser'.

9

Natürliche Konsequenzen nutzen

Wenn das Nicht-Hören Konsequenzen hat, lass sie eintreten. 'Wenn du die Schuhe nicht anziehst, kommen wir zu spät und der Spielplatz ist zu.' Dann: nicht retten.

💡 Die Konsequenz muss logisch mit der Situation zusammenhängen.

Sondersituation: Das 'selektive Hören'

Kennst du das? Bei 'Eis!' reagiert dein Kind sofort, bei 'Aufräumen!' ist es plötzlich taub. Das ist kein Zufall.

Was dahintersteckt:
Das Gehirn priorisiert automatisch, was interessant oder belohnend erscheint. 'Eis' aktiviert das Belohnungszentrum – hohe Aufmerksamkeit. 'Aufräumen' nicht – niedrige Priorität.

Was hilft:
- Unattraktive Aufgaben attraktiver machen: 'Wer räumt schneller auf – du oder ich?'
- Verknüpfung mit etwas Positivem: 'Nach dem Aufräumen lesen wir zusammen'
- Keine falschen Versprechungen, aber echte Motivation
- Anerkennung geben, wenn das Kind kooperiert

Kommunikation, die funktioniert

Diese Formulierungen erhöhen die Chance, gehört zu werden:

  • '[Name], schau mich bitte an. [Anweisung].'
  • 'Zeit für [Aktivität].' (statt 'Kannst du bitte...')
  • 'Erst Schuhe, dann rausgehen.' (klare Reihenfolge)
  • 'Ich zähle bis 10, dann gehst du los.' (klarer Zeitrahmen)
  • 'Ich sehe, du spielst gerade. In 2 Minuten essen wir.' (Ankündigung)
  • 'Was musst du jetzt machen?' (Rückversicherung)
  • 'Ich helfe dir anzufangen.' (Unterstützung statt Druck)

Kommunikation, die selten funktioniert

Diese Formulierungen verringern die Chance, gehört zu werden:

  • 'Könntest du vielleicht...?' (gibt Raum für Nein)
  • 'Wie oft muss ich das noch sagen?!' (rhetorische Frage)
  • 'JETZT SOFORT!' (erzeugt Widerstand)
  • '1-2-3!' (funktioniert oft, aber durch Angst)
  • 'Wenn du nicht... dann...' (Drohung)
  • 'Alle anderen Kinder machen das auch!' (Vergleich)
  • 'Das ist doch nicht so schwer!' (Bagatellisierung)

Wann ist 'Nicht-Hören' noch normal?

🟢

Entwicklungstypisch

Kind ist bei interessanten Aktivitäten vertieft und reagiert verzögert, reagiert auf direkte Ansprache (Augenkontakt, Nähe), kann Anweisungen umsetzen wenn die Kommunikation stimmt, zeigt sonst keine Auffälligkeiten

🟡

Erhöhte Aufmerksamkeit

Kind reagiert auch bei optimaler Kommunikation selten, Nicht-Hören ist deutlich stärker als bei Gleichaltrigen, Kind scheint oft 'in seiner eigenen Welt' zu sein, zusätzliche Schwierigkeiten mit Konzentration oder Impulskontrolle

🔴

Professionelle Abklärung empfohlen

Verdacht auf Hörprobleme (reagiert nicht auf leise Geräusche), Verdacht auf ADHS (zusätzlich Hyperaktivität, Impulsivität), Verdacht auf Autismus-Spektrum (zusätzlich soziale Auffälligkeiten), Kind ist in vielen Bereichen deutlich anders als Gleichaltrige

🩺Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist

Bei folgenden Anzeichen solltest du mit Fachleuten sprechen:

  • !Das Nicht-Hören besteht auch bei optimaler Kommunikation
  • !Du hast den Verdacht, dein Kind könnte Hörprobleme haben
  • !Zusätzliche Auffälligkeiten in der Konzentration oder Impulsivität
  • !Das Kind scheint oft 'in seiner eigenen Welt' zu sein
  • !Deutliche Unterschiede zu Gleichaltrigen in der Reaktionsfähigkeit
  • !Das Nicht-Hören belastet den Familienalltag massiv
  • !Du hast bereits viele Strategien versucht ohne Erfolg
  • !Erzieher oder Lehrer berichten von ähnlichen Problemen
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Anlaufstellen

Erste Ansprechpartner: Kinderarzt/Kinderärztin (Hörtest, Entwicklungscheck), Pädaudiologe (bei Verdacht auf Hörprobleme), Erziehungsberatungsstelle. Bei Verdacht auf ADHS oder Entwicklungsauffälligkeiten: Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), Kinder- und Jugendpsychiater.

Häufig gestellte Fragen

Wer gehört werden will, muss erst zuhören. Das gilt auch für Eltern.

Jesper Juul(Familientherapeut)

Wie kommunizierst du mit deinem Kind?

Dein Erziehungsstil beeinflusst, wie du Anweisungen gibst und wie du auf Nicht-Hören reagierst. Wenn du deinen Stil kennst, kannst du deine Kommunikation gezielt verbessern.

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