Kind ist unhöflich bei anderen – Warum und was du tun kannst
Dein Kind ignoriert Oma bei der Begrüßung, sagt 'Du bist blöd!' zu Tante Emma, oder weigert sich, 'Bitte' und 'Danke' zu sagen. Die Scham sitzt tief, der Drang, das Kind zurechtzuweisen ist groß. Aber warum verhalten sich Kinder so, und wie reagierst du am besten?
In diesem Artikel erfährst du:
- 1Warum Kinder unhöflich erscheinen – die entwicklungspsychologischen Hintergründe
- 2Was Kinder in verschiedenen Altersstufen überhaupt verstehen können
- 3Warum erzwungene Höflichkeit kontraproduktiv sein kann
- 4Wie die 4 Erziehungsstile mit dieser Situation umgehen
- 5Konkrete Strategien, um respektvolles Verhalten zu fördern
- 6Wie du mit kritischen Kommentaren von Verwandten umgehst
Was bedeutet 'unhöflich' eigentlich für ein Kind?
Höflichkeit ist kulturell gelernt:
'Bitte', 'Danke', Begrüßungsrituale – all das sind kulturelle Konventionen, die Kinder erst lernen müssen. Sie werden nicht damit geboren. Ein 2-Jähriger, der nicht 'Hallo' sagt, ist nicht unhöflich – er hat es einfach noch nicht verinnerlicht.
Kinder sind authentisch:
Wenn ein Kind sagt 'Du riechst komisch, Oma', dann ist das keine Beleidigung – es ist eine ehrliche Beobachtung. Kinder unter etwa 5 Jahren haben noch keinen 'Filter'. Sie sagen, was sie denken, ohne zu verstehen, dass das verletzend sein kann.
Höflichkeitsregeln sind abstrakt:
'Man sagt Hallo zu Erwachsenen' – warum eigentlich? Für Kinder sind solche Regeln abstrakt und willkürlich. Sie verstehen den sozialen Sinn dahinter erst mit zunehmender Reife.
Fremde Erwachsene sind... fremd:
Wenn Tante Gerda, die das Kind zweimal im Jahr sieht, einen Kuss verlangt, ist das für das Kind befremdlich. Sein Instinkt sagt: Ich kenne dich nicht gut. Das ist kein Mangel an Erziehung, sondern gesunde Vorsicht.
Überforderung zeigt sich als 'Frechheit':
Manchmal ist unhöfliches Verhalten ein Zeichen von Überforderung: zu viele Menschen, zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Erwartung. Das Kind reagiert mit Abwehr.
Die Situation aus zwei Perspektiven
Was wir als Unhöflichkeit interpretieren, hat für das Kind oft eine ganz andere Bedeutung:
Dein Kind denkt vielleicht:
- Warum soll ich jemanden küssen, den ich kaum kenne?
- Ich war ehrlich – warum ist Mama jetzt böse?
- Ich hab Angst / bin schüchtern, ich kann nicht reden
- Ich will gerade spielen, nicht Hallo sagen
- Diese Erwachsenen gucken mich so komisch an
- Ich weiß nicht, was 'höflich' bedeutet
Erwachsene denken oft:
- Das Kind ist schlecht erzogen
- Die Eltern haben versagt
- Es macht das absichtlich, um uns zu ärgern
- So ein respektloses Verhalten!
- Früher hätte es das nicht gegeben
- Die Eltern sind zu nachgiebig
💡Die meisten 'unhöflichen' Verhaltensweisen sind entweder entwicklungsbedingt (das Kind KANN es noch nicht), situationsbedingt (Überforderung, Angst) oder Ausdruck von Authentizität. Echte Respektlosigkeit – mit der bewussten Absicht zu verletzen – ist bei kleinen Kindern selten.
Was können Kinder in welchem Alter verstehen?
2-3 Jahre:
Können einfache Routinen lernen (Hallo, Tschüss), aber nicht konsequent. Haben keine Impulskontrolle. Ehrliche, 'peinliche' Aussagen sind normal. Erzwungene Umarmungen/Küsse sollten nie verlangt werden.
4-5 Jahre:
Beginnen zu verstehen, dass Worte andere verletzen können. Können sich an Regeln erinnern, vergessen sie aber oft im Moment. Schüchternheit bei Fremden ist normal. Können 'Bitte/Danke' meist, wenn erinnert.
6-7 Jahre:
Verstehen soziale Erwartungen besser. Können zwischen 'drinnen-Stimme' und 'draußen-Verhalten' unterscheiden. Fangen an, Perspektive anderer einzunehmen. Trotzdem: Emotionen können überwiegen.
8+ Jahre:
Verstehen komplexere soziale Regeln. Können Höflichkeit bewusst einsetzen. Echte Unhöflichkeit kann jetzt bewusster sein – aber oft steckt trotzdem ein Grund dahinter (Wut, Scham, Überforderung).
Wichtig:
Diese Altersspannen sind Orientierungswerte. Manche Kinder sind früher, manche später dran. Und auch ältere Kinder können unter Stress 'jünger' reagieren.
Theory of Mind – die Perspektivübernahme
Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, heißt 'Theory of Mind'. Sie entwickelt sich erst zwischen 4 und 6 Jahren. Vorher können Kinder buchstäblich nicht verstehen, dass andere Menschen andere Gefühle haben. Wenn ein 3-Jähriges sagt 'Du bist hässlich', versteht es nicht wirklich, dass das wehtut. Es beschreibt seine Wahrnehmung, ohne zu verstehen, wie das beim anderen ankommt.
Typische Situationen und was dahinter steckt
Was wir als 'Unhöflichkeit' wahrnehmen, hat oft andere Ursachen:
- •Kind sagt nicht 'Hallo': Schüchternheit, Überforderung, oder Vertieftheit ins Spiel
- •Kind verweigert Umarmung/Kuss: Gesundes Körpergefühl und Grenzen – sollte respektiert werden!
- •Kind sagt 'gemeine' Sachen: Ehrlichkeit ohne Filter, Frustration, oder nachgeahmtes Verhalten
- •Kind ignoriert Fragen von Erwachsenen: Schüchternheit, Überforderung, oder es versteht die Frage nicht
- •Kind antwortet pampig: Übermüdung, Hunger, Überstimulation, oder Nachahmung
- •Kind macht sich über andere lustig: Noch kein Verständnis für die Gefühle anderer, oder Unsicherheit
Was Eltern oft falsch machen
Diese gut gemeinten Reaktionen können das Problem verschlimmern:
- ✗Erzwungene Entschuldigung: 'Sag sofort Entschuldigung!' – erzwungene Entschuldigungen sind nicht authentisch
- ✗Beschämung: 'Schämst du dich nicht!' – schadet dem Selbstwert
- ✗Zu viel Druck im Moment: Unter Druck blockieren Kinder erst recht
- ✗Für das Kind sprechen: Entmündigt das Kind
- ✗Nachträgliches Ausfragen: 'Warum hast du das gesagt?!' – Kind versteht die Frage oft nicht
- ✗Vergleiche: 'Das andere Kind sagt immer brav Hallo!'
- ✗Körperlichen Kontakt erzwingen: Umarmungen/Küsse zu verlangen verletzt die Körperautonomie
Wie die 4 Erziehungsstile mit 'unhöflichem' Verhalten umgehen
Die Reaktion auf vermeintliche Unhöflichkeit zeigt oft unseren Erziehungsstil – besonders unter dem Druck, vor anderen gut dazustehen:
Autoritativ
Wärme + klare Grenzen
- Bereitet das Kind auf soziale Situationen vor
- Erklärt Höflichkeitsregeln altersgerecht und oft – nicht nur im Moment
- Erzwingt keine körperliche Nähe zu anderen
- Modelliert selbst höfliches Verhalten vor
- Nimmt das Kind bei Grenzüberschreitung kurz zur Seite
- Spricht später in Ruhe über die Situation
- Verteidigt das Kind gegen überzogene Erwartungen anderer
- Gibt dem Kind Zeit und Raum, sich zu öffnen
→ Kind lernt Höflichkeit als soziale Kompetenz, nicht als erzwungenes Verhalten. Es entwickelt echten Respekt.
Autoritär
Strenge + wenig Emotionen
- Besteht auf sofortige Entschuldigung
- Beschämt das Kind vor anderen: 'Das ist unhöflich!'
- Erzwingt Küsse und Umarmungen: 'Gib Oma einen Kuss!'
- Droht mit Konsequenzen
- Sieht Unhöflichkeit als Zeichen mangelnden Respekts
→ Kind lernt: Meine Gefühle und Grenzen zählen nicht. Zeigt vielleicht äußerlich Höflichkeit, aber aus Angst, nicht aus Überzeugung.
Permissiv
Viel Wärme, wenige Grenzen
- Entschuldigt sich für das Kind: 'Es ist halt schüchtern'
- Lässt alles durchgehen, um Konflikte zu vermeiden
- Keine klare Orientierung, was erwartet wird
- Rechtfertigt unhöfliches Verhalten endlos
- Vermeidet soziale Situationen statt sie zu üben
→ Kind bekommt keine Orientierung über soziale Erwartungen. Kann später Schwierigkeiten haben, sich anzupassen.
Laissez-faire
Wenig Struktur, wenig Führung
- Reagiert kaum auf unhöfliches Verhalten
- Gibt keine Anleitung oder Modellierung
- Lässt das Kind sich selbst überlassen
- Inkonsequent – mal so, mal so
- Sieht keinen Grund zum Eingreifen
→ Kind lernt keine sozialen Normen. Kann langfristig Probleme in sozialen Situationen haben.
So förderst du respektvolles Verhalten – Schritt für Schritt
Diese Strategien helfen langfristig mehr als Zurechtweisungen im Moment:
Vorbild sein – immer
Kinder lernen Höflichkeit vor allem durch Nachahmung. Wie sprichst DU mit anderen? Mit dem Kellner, dem Postboten, der Kassiererin? Dein Kind beobachtet und übernimmt.
💡 Überlege: Würdest du wollen, dass dein Kind so spricht wie du im Alltag?
Höflichkeit außerhalb des Moments üben
Die beste Zeit, Höflichkeit zu üben, ist NICHT im peinlichen Moment. Sprich zuhause in Ruhe über Begrüßung, 'Bitte/Danke', warum wir freundlich zu anderen sind. Nutze Rollenspiele, Bücher, Puppen.
💡 Beim Kuscheln abends: 'Weißt du, warum wir Hallo sagen?'
Realistische Erwartungen haben
Ein 3-Jähriges wird nicht perfekte Tischmanieren haben. Ein 5-Jähriges wird manchmal pampig antworten. Das ist normal. Passe deine Erwartungen dem Alter an.
💡 Frag dich: 'Kann mein Kind das schon – oder lerne ich ihm etwas Neues?'
Körperautonomie respektieren
Erzwinge NIE Umarmungen, Küsse oder körperlichen Kontakt. Das Kind darf entscheiden, wem es nahe sein möchte. Ein 'High Five' oder Winken sind gute Alternativen.
💡 Sag vorher: 'Du entscheidest, ob du Oma eine Umarmung gibst oder ihr winkst.'
Vorbereitung vor sozialen Situationen
Bevor ihr irgendwo hingeht: 'Wir besuchen heute Tante Lisa. Wenn wir ankommen, sagen wir Hallo. Vielleicht fragt sie dich Sachen – du musst nicht alles beantworten.'
💡 Kinder, die wissen, was kommt, sind weniger überfordert.
Im Moment: Nicht beschämen
Wenn dein Kind etwas 'Unhöfliches' sagt oder tut: Nicht vor allen schimpfen. Nimm es kurz zur Seite und flüstere: 'Das hat Oma vielleicht traurig gemacht. Lass uns nachher drüber reden.'
💡 Kritik immer unter vier Augen, nie vor Publikum.
Später: Reflektieren ohne zu moralisieren
Zuhause, in Ruhe: 'Weißt du noch, als du zu Oma gesagt hast, ihr Kuchen schmeckt nicht? Wie denkst du, hat sich Oma gefühlt?' Fragen statt Belehren.
💡 Nutze 'Ich-Botschaften': 'Ich habe mich unwohl gefühlt, als...'
Die Perspektive des Kindes verstehen
Frag nach dem Warum – nicht vorwurfsvoll, sondern neugierig. 'Du wolltest Tante Marie nicht umarmen. Magst du mir erzählen warum?' Oft gibt es gute Gründe.
💡 Manchmal ist die Antwort so simpel wie: 'Sie riecht anders.'
Alternativen anbieten
Wenn dein Kind nicht 'Hallo' sagen will: 'Okay, dann kannst du winken.' Wenn es nicht 'Danke' sagen will: 'Dann kannst du nicken.' Kleine Schritte.
💡 Jede kleine Geste ist besser als erzwungene Worte.
Geduld haben – es dauert Jahre
Höflichkeit ist eine Fähigkeit, die sich über Jahre entwickelt. Dein Kind wird nicht von heute auf morgen perfekt höflich sein. Bleib dran, aber entspannt.
💡 Feiere kleine Fortschritte: 'Du hast ganz von alleine Danke gesagt!'
Umgang mit Kommentaren und Erwartungen anderer
'Früher war das anders!':
Ja, und früher war auch nicht alles besser. Erziehungswissen hat sich weiterentwickelt. Du musst dich nicht für moderne Erkenntnisse rechtfertigen.
'Das Kind muss Respekt lernen!':
Respekt entsteht nicht durch Zwang, sondern durch respektvolle Beziehungen. Ein Kind, das gezwungen wird, lernt Gehorsam aus Angst, nicht echten Respekt.
'Gib Oma einen Kuss!':
Höflich aber bestimmt: 'Bei uns entscheidet [Name] selbst, wen es küssen möchte. Ein Winken ist auch eine schöne Begrüßung.' Du darfst die Körperautonomie deines Kindes schützen.
Kritische Blicke:
Atme durch. Du weißt, was du tust. Die Meinung anderer über deine Erziehung ist weniger wichtig als das Wohl deines Kindes.
Wenn es wirklich unhöflich war:
Manchmal HAT das Kind etwas Verletzendes gesagt. Dann: Kurze Entschuldigung ('Das tut mir leid, wir besprechen das zuhause'), und dann wirklich zuhause besprechen – ohne Tribunal.
Körperautonomie ist wichtiger als Höflichkeit
Wenn dein Kind keine Umarmung oder keinen Kuss geben will, respektiere das IMMER. Erzwungener körperlicher Kontakt lehrt Kinder: Deine Grenzen zählen nicht, wenn Erwachsene etwas anderes wollen. Das ist das Gegenteil von dem, was wir unseren Kindern für ihren Schutz beibringen sollten. Höflich sein ist wichtig – aber die eigene Körpergrenze kennen ist wichtiger.
Sätze, die helfen
Diese Formulierungen fördern Höflichkeit ohne Zwang:
- ✓'Wir sagen Hallo, wenn wir jemanden sehen.' (Modellierung)
- ✓'Du kannst winken, wenn du nicht sprechen magst.' (Alternative)
- ✓'Wie hat sich Oma wohl gefühlt?' (Perspektivübernahme fördern)
- ✓'Bei uns entscheidet [Name], wen es umarmen möchte.' (Körperautonomie)
- ✓'Das war für Tante Lisa vielleicht nicht so schön zu hören.' (Reflektion)
- ✓'Danke, dass du Bitte gesagt hast!' (Positiv verstärken)
Sätze, die nicht helfen
Diese Formulierungen sind kontraproduktiv:
- ✗'Sag SOFORT Entschuldigung!' (erzwungene Entschuldigung ist nicht echt)
- ✗'Schämst du dich nicht?!' (beschämt, verletzt Selbstwert)
- ✗'Gib Oma einen Kuss, sie ist doch traurig!' (manipuliert mit Schuldgefühlen)
- ✗'So ein Benehmen! Was sollen die Leute denken!' (Kind trägt Verantwortung für dein Image)
- ✗'Das sagt man nicht!' (erklärt nicht, warum)
- ✗'Alle anderen Kinder sind viel höflicher!' (Vergleich)
Wann ist 'Unhöflichkeit' bedenklich?
Entwicklungstypisch
Kind ist unter 6 Jahren, 'unhöfliches' Verhalten ist situationsabhängig, Kind zeigt auch höfliches Verhalten (wenn auch nicht immer), ehrliche Aussagen ohne Filter sind altersgemäß, Kind ist manchmal schüchtern bei Fremden
Erhöhte Aufmerksamkeit
Kind ist über 6 und zeigt kaum Verbesserung trotz Anleitung, bewusst verletzende Aussagen häufen sich, Kind zeigt wenig Empathie für die Gefühle anderer, soziale Situationen werden regelmäßig zum Problem
Professionelle Beratung empfohlen
Durchgehend aggressives oder beleidigendes Verhalten, keine erkennbare Empathie auch bei älteren Kindern, Kind hat massive Schwierigkeiten in sozialen Kontexten, Verdacht auf zugrundeliegende Probleme (Autismus-Spektrum, Bindungsstörung)
🩺Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist
Manchmal steckt hinter 'unhöflichem' Verhalten mehr. Hol dir Unterstützung, wenn:
- !Das Kind auch mit 7+ Jahren keine Perspektivübernahme zeigt
- !Bewusst verletzende Äußerungen ein Muster sind
- !Das Kind in vielen sozialen Situationen Schwierigkeiten hat
- !Du den Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störung hast (dann ist 'Unhöflichkeit' oft kein Erziehungsthema)
- !Das Kind auch in anderen Bereichen auffälliges Verhalten zeigt
- !Die sozialen Schwierigkeiten das Kind selbst belasten
- !Du als Elternteil chronisch gestresst von der Situation bist
- !Eure Beziehung unter dem Thema leidet
Häufig gestellte Fragen
„Kinder lernen Respekt, indem sie Respekt erfahren. Nicht, indem man ihn von ihnen erzwingt.
Wie gehst du mit 'peinlichem' Verhalten um?
Wenn dein Kind sich 'unhöflich' verhält, zeigt sich oft dein Erziehungsstil – besonders unter dem Druck anderer. Beschämst du? Überhörst du? Oder findest du einen Mittelweg? Dein Stil beeinflusst, wie dein Kind soziale Kompetenz entwickelt.
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