Kind klammert extrem in der Kita – Ursachen verstehen und einfühlsam begleiten
Dein Kind lässt dich nicht los. Bei der Kita-Übergabe klammert es sich an dich, weint, hält sich an deinem Bein fest. Du musst es praktisch von dir 'lösen'. Das ist herzzerreißend für dich und offensichtlich sehr stressig für dein Kind. Aber: Dieses Verhalten hat einen guten Grund und ist entwicklungspsychologisch völlig verständlich.
In diesem Artikel erfährst du:
- 1Was hinter dem Klammerverhalten steckt
- 2Warum Klammern ein Zeichen sicherer Bindung sein kann
- 3Welche Faktoren das Klammern verstärken
- 4Wie die 4 Erziehungsstile mit Klammern umgehen
- 5Konkrete Strategien für mehr Sicherheit und sanftere Übergänge
- 6Wann das Klammern auf tiefere Probleme hindeutet
Was ist Klammerverhalten und woher kommt es?
Das Bindungssystem erklärt:
Jedes Kind wird mit einem angeborenen Bedürfnis nach Nähe zu seinen Bezugspersonen geboren. Dieses sogenannte Bindungssystem ist ein Überlebensmechanismus: Ein Kind, das sich an seine Eltern klammert, wird beschützt. Das Klammern deines Kindes in der Kita ist also keine Manipulation oder schlechte Angewohnheit – es ist ein tief verwurzeltes Schutzverhalten.
Der Alarm im Gehirn:
Wenn dein Kind spürt, dass du gehen wirst, aktiviert sein Gehirn einen Alarm. Die Amygdala – das Angstzentrum des Gehirns – schlägt an. Stresshormone werden ausgeschüttet. Das logische Denken (im präfrontalen Kortex) ist bei Kleinkindern noch nicht ausreichend entwickelt, um diesen Alarm zu überschreiben.
Klammern als Bindungsverhalten:
Das Klammern ist eine von mehreren Strategien, die Kinder nutzen, um Nähe zu ihrer Bezugsperson herzustellen: Weinen, Rufen, Nachfolgen – und eben Festhalten. Je intensiver das Klammern, desto größer die wahrgenommene Bedrohung durch die Trennung.
Entwicklungsphasen:
Klammerverhalten ist besonders stark in bestimmten Entwicklungsphasen: Rund um den ersten Geburtstag, zwischen 18 und 24 Monaten, und oft noch einmal um den dritten Geburtstag herum. In diesen Phasen ist die Trennungsangst entwicklungsbedingt erhöht.
Das Klammern aus zwei Perspektiven
Um das Verhalten besser zu verstehen, schauen wir auf beide Seiten:
Dein Kind erlebt:
- Du bist meine sichere Basis – wenn du gehst, fühle ich mich unsicher
- Diese Umgebung ist neu/fremd/überwältigend
- Ich habe Angst, dass du nicht wiederkommst
- Mein ganzer Körper sagt: Halt sie fest!
- Ich kann diese starken Gefühle nicht kontrollieren
- Die Erzieherin ist noch keine sichere Basis für mich
Du als Elternteil erlebst:
- Mein Kind leidet – das ist schwer auszuhalten
- Ich fühle mich schuldig, wenn ich gehe
- Die Übergabe ist jeden Tag ein Kraftakt
- Ich bin unsicher: Soll ich bleiben oder gehen?
- Andere Eltern schauen – ist mein Kind 'schwierig'?
- Bin ich schuld an diesem Verhalten?
💡Ein Kind, das klammert, zeigt dir: 'Du bist meine Sicherheit. Ohne dich fühle ich mich verloren.' Das ist kein Defizit – es ist der Beweis einer starken Bindung. Deine Aufgabe ist es, diese Bindung zu würdigen und gleichzeitig Vertrauen in die neue Umgebung aufzubauen.
Die Wissenschaft hinter dem Klammerverhalten
Sichere vs. unsichere Bindung:
Entgegen der Intuition klammern sicher gebundene Kinder oft besonders stark – zumindest anfangs. Sie haben gelernt, dass ihre Signale gehört werden, also senden sie deutliche Signale. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder zeigen manchmal weniger Protest, aber das bedeutet nicht, dass sie weniger gestresst sind – sie haben nur gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken.
Das 'Strange Situation'-Experiment:
Die Psychologin Mary Ainsworth entwickelte ein Experiment, bei dem Kinder kurzzeitig von ihrer Mutter getrennt wurden. Die Reaktionen zeigten unterschiedliche Bindungstypen. Sicher gebundene Kinder protestierten bei der Trennung (gesund!), ließen sich aber bei der Rückkehr schnell trösten.
Cortisol und Stress:
Studien zeigen, dass Trennungssituationen bei Kleinkindern zu erhöhten Cortisol-Werten führen können. Dieser Stress ist nicht per se schädlich – entscheidend ist, ob das Kind Unterstützung bei der Regulation bekommt.
Die Übertragung der 'sicheren Basis':
Bei der Kita-Eingewöhnung muss die 'sichere Basis' – also die Person, von der aus das Kind die Welt erkunden kann – teilweise auf die Erzieherin übertragen werden. Das braucht Zeit und positive Erfahrungen.
Klammern ist nicht gleich Klammern
Es gibt einen Unterschied zwischen normalem, entwicklungsbedingtem Klammerverhalten und einem Hinweis auf tiefere Probleme. Normales Klammern: Kommt bei Übergängen, in fremden Situationen, bei Müdigkeit. Das Kind beruhigt sich nach der Trennung und kann spielen. Bedenkliches Klammern: Dauert den ganzen Tag, das Kind ist untröstlich, zeigt extreme Angst, entwickelt körperliche Symptome.
Faktoren, die das Klammern verstärken
Diese Umstände können dazu führen, dass dein Kind sich besonders stark festhält:
- •Temperament: Sensible, vorsichtige Kinder klammern oft mehr
- •Entwicklungsphase: Höhepunkte der Trennungsangst (ca. 10-18 Monate, um 2 Jahre)
- •Veränderungen: Umzug, neues Geschwisterchen, Konflikte zu Hause
- •Müdigkeit oder Krankheit: Ein erschöpftes Kind braucht mehr Sicherheit
- •Negative Erlebnisse: Schlechte Erfahrungen in der Kita oder mit Trennungen
- •Elterliche Unsicherheit: Wenn du selbst ambivalent bist, spürt das Kind das
- •Unzureichende Eingewöhnung: Zu schnelles Vorgehen kann die Angst verstärken
- •Wechselnde Bezugspersonen: Keine feste Erzieherin als Anker
💡Diese Faktoren zu kennen hilft, Lösungen zu finden.
Typische Fehler im Umgang mit Klammern
Diese gut gemeinten Reaktionen können das Problem verschärfen:
- ✗Das Kind 'abreißen': Gewaltsames Lösen verstärkt die Angst
- ✗Heimlich verschwinden: Zerstört das Vertrauen nachhaltig
- ✗Zu langes Bleiben: Zieht die schwierige Phase in die Länge
- ✗Gefühle kleinreden: 'Du brauchst keine Angst haben' hilft nicht
- ✗Bestrafen oder schimpfen: Verstärkt die Unsicherheit
- ✗Selbst weinen oder sehr emotional werden: Signalisiert: Das ist gefährlich
- ✗Bestechung: 'Wenn du mich loslässt, bekommst du...' ist keine echte Lösung
Wie die 4 Erziehungsstile mit Klammern umgehen
Dein Erziehungsstil prägt deine Reaktion auf das Klammerverhalten:
Autoritativ
Wärme + klare Grenzen
- Nimmt die Angst des Kindes ernst ohne zu dramatisieren
- Gibt dem Kind Zeit, sich zu lösen, aber bleibt klar im Gehen
- Verwendet Übergangsrituale und Übergangsobjekte
- Zeigt Vertrauen in das Kind und die Erzieherin
- Bleibt selbst ruhig und reguliert
- Spricht zu Hause über die Gefühle des Kindes
- Baut aktiv die Beziehung zur Erzieherin auf
→ Kind erfährt: Meine Angst wird ernst genommen UND ich kann das schaffen. Beste Basis für wachsendes Vertrauen.
Autoritär
Strenge + wenig Emotionen
- Wenig Verständnis für die Angst: 'Stell dich nicht so an'
- Erwartet, dass das Kind schnell 'funktioniert'
- Löst das Kind gewaltsam und geht
- Sieht Klammern als Manipulation oder Trotz
- Schämt sich für das Verhalten des Kindes
→ Kind fühlt sich nicht verstanden, die Angst bleibt oder verstärkt sich. Kann zu Vermeidungsverhalten führen.
Permissiv
Viel Wärme, wenige Grenzen
- Kann sich selbst kaum lösen, wenn das Kind klammert
- Bleibt immer länger, 'nur noch ein bisschen'
- Zweifelt ständig an der Kita-Entscheidung
- Überträgt eigene Trennungsängste auf das Kind
- Vermeidet manchmal die Kita ganz
→ Kind lernt: Die Trennung IST gefährlich, sogar Mama hat Angst. Klammern verstärkt sich.
Laissez-faire
Wenig Struktur, wenig Führung
- Ist beim Übergang emotional kaum präsent
- Übergibt das Kind ohne echte Verabschiedung
- Delegiert das Problem komplett an die Erzieher
- Keine Rituale oder Struktur beim Abschied
- Kind findet keine sichere Basis
→ Kind ist orientierungslos und klammert möglicherweise noch stärker oder gibt irgendwann resigniert auf.
So begleitest du das Klammern einfühlsam – Schritt für Schritt
Mit diesen Strategien hilfst du deinem Kind, sich sicherer zu fühlen:
Würdige die Angst deines Kindes
Das Klammern zeigt echte Angst. Nimm sie ernst, ohne zu dramatisieren. 'Ich sehe, du möchtest dass ich bleibe. Ich weiß, das ist schwer.' Diese Anerkennung allein hilft schon.
💡 Vermeide 'Du brauchst keine Angst haben' – das entwertet das Gefühl.
Schaffe Vorhersehbarkeit
Erzähle deinem Kind vorher genau, was passieren wird: 'Wir fahren zur Kita, du spielst dort, und nach dem Mittagessen hole ich dich ab.' Vorhersehbarkeit reduziert Angst.
💡 Ein Bilderbuch über den Kita-Tag kann helfen, die Routine zu visualisieren.
Etabliere ein Übergangsritual
Ein gleichbleibendes, kurzes Ritual beim Abschied gibt Struktur: Ein spezieller Kuss, ein Spruch, ein Winken durchs Fenster. Das Ritual sollte maximal 1-2 Minuten dauern.
💡 Der 'Zauberkuss' auf die Hand funktioniert bei vielen Kindern gut.
Nutze Übergangsobjekte
Ein Kuscheltier, ein Foto von euch, ein T-Shirt mit deinem Geruch – etwas Vertrautes, das dein Kind in der Kita bei sich hat und an dich erinnert.
💡 Das Objekt kann in der Kita bleiben, damit es immer da ist.
Übergib aktiv an die Erzieherin
Sage klar: 'Lisa passt jetzt auf dich auf, bis ich wiederkomme.' So entsteht eine bewusste Übergabe der 'sicheren Basis'. Die Erzieherin sollte bereit sein, dein Kind zu übernehmen.
💡 Bau die Beziehung zur Erzieherin auch vor deinem Kind auf – zeig Vertrauen.
Geh, wenn du dich verabschiedet hast
Nach dem Ritual und der Übergabe: Geh. Bleib nicht stehen, warte nicht, schau nicht durchs Fenster. Dein Zögern verstärkt die Unsicherheit.
💡 Ruf 15 Minuten später an, um zu hören dass es deinem Kind gut geht.
Bleib selbst ruhig und zuversichtlich
Dein Kind liest deine Emotionen. Wenn du unsicher, traurig oder panisch bist, verstärkt das seine Angst. Arbeite an deiner eigenen Haltung: 'Mein Kind schafft das.'
💡 Wenn du selbst stark mit der Trennung kämpfst, sprich mit jemandem darüber.
Stärke die Beziehung zur Kita
Sprich zu Hause positiv über die Kita und die Erzieherin. Zeig Interesse an dem, was dein Kind dort erlebt. So wird die Kita zum sicheren Ort.
💡 Frag nach Fotos vom Kita-Tag, die du mit deinem Kind anschauen kannst.
Gib Zeit für die Übergänge
Nach Krankheit, Urlaub oder Wochenende kann das Klammern verstärkt auftreten. Das ist normal. Hab Geduld und bleib bei deinen Ritualen.
💡 Der erste Tag nach einer Pause ist oft der schwierigste – dann wird es besser.
Feiere kleine Erfolge
Wenn der Abschied ein bisschen leichter war: Würdige das! 'Das hast du heute toll gemacht!' Positive Verstärkung hilft.
💡 Führe ein kleines Sternchen-System, wenn es zu eurem Stil passt.
Langfristige Strategien gegen intensives Klammern
Die Bindung stärken (ja, wirklich!):
Paradoxerweise hilft eine starke Bindung dem Kind, sich LEICHTER zu lösen. Wenn das Kind sicher weiß 'Mama liebt mich und kommt zurück', kann es eher loslassen. Qualitätszeit, Aufmerksamkeit, emotionale Verfügbarkeit stärken diese Basis.
Kleine Trennungsübungen:
Übe Trennungen im sicheren Rahmen: Kind bleibt kurz bei Oma, Papa geht einkaufen während Mama bleibt. Diese kleinen Erfahrungen zeigen: Menschen gehen weg und kommen wieder.
Selbstständigkeit fördern:
Gib deinem Kind altersgerechte Aufgaben und Entscheidungen. Ein Kind, das sich kompetent fühlt, ist weniger ängstlich.
Über Gefühle sprechen:
Benenne Gefühle im Alltag. 'Du warst traurig, als ich ging. Jetzt bist du froh, dass ich wieder da bin.' So lernt dein Kind, seine Emotionen zu verstehen.
Vorbild sein:
Zeig deinem Kind, wie du selbst mit Abschieden umgehst. Wenn du entspannt bist, signalisiert das Sicherheit.
Hilfreiche Sätze beim Klammern
Diese Sätze geben deinem Kind Sicherheit:
- ✓'Ich sehe, du möchtest dass ich bleibe. Das ist schwer.'
- ✓'Ich komme nach dem Mittagessen wieder. Das verspreche ich dir.'
- ✓'Lisa passt gut auf dich auf. Sie freut sich auf euch.'
- ✓'Dein Kuscheltier bleibt bei dir und passt auf.'
- ✓'Ich denke an dich, während du spielst.'
- ✓'Du schaffst das. Ich bin so stolz auf dich.'
- ✓(Nach der Kita) 'Ich hab dich so vermisst. Jetzt sind wir wieder zusammen.'
Sätze, die das Klammern verstärken können
Vermeide diese gut gemeinten Aussagen:
- ✗'Du brauchst keine Angst haben.' (entwertet das Gefühl)
- ✗'Jetzt lass mich endlich los!' (macht Druck)
- ✗'Du bist doch schon groß!' (beschämt)
- ✗'Die anderen Kinder machen das auch nicht.' (vergleicht)
- ✗'Ich bleib noch ganz kurz...' und dann gehen (unehrlich)
- ✗'Wenn du mich loslässt, bekommst du...' (Bestechung)
Wann ist das Klammern noch normal?
Normales Klammerverhalten
Kind klammert bei der Übergabe, lässt aber nach 5-10 Minuten los oder akzeptiert die Erzieherin. Es beruhigt sich nach dem Abschied und kann spielen. Das Klammern ist in Übergangsphasen oder bei Veränderungen verstärkt, lässt aber generell über Wochen nach.
Erhöhte Aufmerksamkeit
Kind klammert extrem und lässt über längere Zeit (>30 Min) nicht los. Es ist auch nach dem Abschied lange untröstlich, zeigt zu Hause neue Ängste oder Verhaltensänderungen. Das Klammern wird über Wochen nicht besser oder verstärkt sich sogar.
Professionelle Beratung empfohlen
Kind zeigt extreme Panik mit körperlichen Symptomen (Erbrechen, Zittern). Es ist über Stunden untröstlich, entwickelt Schlafprobleme oder andere körperliche Symptome. Das Kind verweigert die Kita komplett oder zeigt Entwicklungsrückschritte.
🩺Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist
Manchmal braucht es mehr als Geduld und Strategien:
- !Das Klammern ist auch nach Wochen oder Monaten unverändert extrem
- !Dein Kind zeigt Panikattacken oder körperliche Symptome
- !Es entwickeln sich andere Probleme (Schlaf, Essen, Einnässen)
- !Dein Kind zeigt zu Hause deutliche Verhaltensänderungen
- !Du selbst leidest stark unter der Situation
- !Du hast ein anhaltendes schlechtes Gefühl bezüglich der Kita
- !Es gab traumatische Erlebnisse (Trennung, Verlust, Unfall)
- !Du merkst, dass dein eigenes Trennungsthema mitspielt
Anlaufstellen für Unterstützung
Bei anhaltendem starkem Klammern helfen: Dein Kinderarzt als erster Ansprechpartner, Erziehungsberatungsstellen (kostenlos), ein Gespräch mit der Kita-Leitung, bei Bedarf ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Auch Familienhilfe kann bei komplexeren Situationen unterstützen.
Häufig gestellte Fragen
„Das Kind, das sich an uns klammert, zeigt uns: 'Du bist mein sicherer Hafen.' Es klammert sich nicht, um uns zu ärgern, sondern weil wir das Wichtigste in seiner Welt sind. Mit dieser Erkenntnis können wir ihm die Sicherheit geben, die es braucht, um loszulassen.
Wie gehst du mit dem Klammern um?
Dein Erziehungsstil prägt, wie du auf das Klammerverhalten reagierst. Bleibst du ruhig oder wirst du selbst unsicher? Gehst du klar oder zögerst du? Finde heraus, welcher Erziehungsstil dich prägt.
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